Zum Hinterbliebenen-Schmerzensgeld im deutschen Recht
Ich habe mich bewusst noch nicht zu dem schrecklichen Flugzeugabsturz am 24. März geäußert, weil ich es aus Anstand für geboten gehalten habe, mindestens die Trauerfeier für die Opfer und Hinterbliebenen dieser Katastrophe abzuwarten. Dass manche “Luftfahrt-Experten” sich dennoch bereits Stunden nach dem Unfall mehr oder weniger qualifiziert geäußert haben, ist mit Recht öffentlich hinreichend kritisiert worden. Gleiches gilt für das wenig einfühlsame Verhalten mancher Medien. Auch dazu möchte ich keine weiteren Ausführungen machen, sondern mich darauf beschränken, das Verhalten einiger Rechtsanwälte kurz zu beleuchten.
Dass Menschen auch an Bord von Flugzeugen, Schiffen, Bahnen oder Bussen verletzt oder auch getötet werden, ist ein allgemeines Lebensrisiko, das sich leider nie hundertprozentig ausschließen lässt. Viele Anwälte helfen bei solchen Unfällen Geschädigten oder Hinterbliebenen jeden Tag ohne großes Aufsehen in der Öffentlichkeit. Wenn sich aber ein Unfall ereignet, der “spektakulär” und “medienwirksam” ist oder zu werden scheint, tauchen interessanterweise immer wieder bestimmte Anwälte auf, die sich (nur bei solchen Unfällen!) als “Experten” ins Gespräch zu bringen versuchen und sich in jede Talkshow oder sonstige Fernsehsendung drängen, um ihr “Wissen” zu verbreiten.
So auch ein früherer Innenminister, der sich gerne in der Öffentlichkeit als “Luftrechtsexperte” geriert. Dieser hat in einer Talkshow auf die Frage des Moderators, ob es einen großen Unterschied mache, ob es sich bei der Ursache des Unfalls um ein technischen Defekt gehandelt hätte oder der Absturz mit Absicht herbeigeführt wurde, geantwortet: “Ja, das hat Auswirkungen auf die Haftung. Die Haftungsgrenzen fallen weg, wenn aus der Fluggesellschaft selber die Tat begangen worden ist. Sonst gibt es Haftungsgrenzen.” Da staunt der Laie und es wundert sich der Fachmann. Wie bitte? Haftungsgrenzen? Die gab es bei Luftfahrtunfällen früher einmal, als auf einen Flug wie den vorliegenden noch das sog. Warschauer Abkommen Anwendung gefunden hat. Dem „Experten“ ist aber offensichtlich entgangen, dass auf einen Flug von Barcelona nach Düsseldorf allein das seit 1999, mithin vor 16 Jahren (!) in Kraft getretene Montrealer Übereinkommen zur Anwendung kommt! Gäbe mir ein Student, der die Vorlesung “Internationales Luftverkehrsrecht” gehört hat, in einer Prüfung eine solche Antwort, hätte ich erhebliche Mühe, diese Leistung noch mit der Note ausreichend zu bewerten. Das ficht aber einen selbsternannten “Experten” nicht an, solange er sicher sein kann, dass die von der heutigen Medienwelt geprägten Ratsuchenden meinen, dass derjenige, der sich im Fernsehen präsentiert oder in der Presse Interviews gibt, allein deswegen ein “Experte” sein muss. Das Phänomen, dass Menschen sich auch mit Halb- oder Nichtwissen ungeniert als Fachmänner gerieren, ist aber offensichtlich nicht neu. Schon vor 500 Jahren formulierte der elsässische Jurist und Satiriker Sebastian Brant (14558 – 1521): “Mancher zum Meister sich erklärt, dem nie das Handwerk ward gelehrt”.
Der vorerwähnte “Experte” ließ in der nämlichen Talkshow die Zuschauer auch wissen, dass sich “der Schmerz (des Opfers) vererbt”. Ich will diese juristisch unpräzise Aussage an dieser Stelle unkommentiert lassen und eher eine seiner weiteren Weisheiten aufgreifen. Am Tage der Trauerfeier empfahl er nämlich “der Lufthansa” (nicht aber dem Schädiger der Germanwings!) über die Presse bei der Zahlung des Schmerzensgeldes “großzügig zu verfahren”. Gemeint war, Schmerzensgelder auszukehren, die über dem von deutschen Gerichten bislang gesetzten Standard liegen. Diese aufgedrängte Anregung ist sicher zulässig, löst aber das zugrunde liegende Problem nicht wirklich.
Jeder von Ihnen, der wie ich als Anwalt häufig Opfern und deren Hinterbliebenen nach Unfällen während einer Urlaubs- oder Flugreise bei der Durchsetzung berechtigter Schmerzensgeldansprüche geholfen hat, weiß, dass die bislang von deutschen Gerichten ausgeurteilten Schmerzensgeldbeträge in den meisten Fällen unangemessen niedrig sind. So haben z.B. die Hinterbliebenen des Zugunglücks von Eschede laut Presseberichten nur einen niedrigen fünftstelligen Betrag erhalten. Viel höher lagen auch nicht die Schmerzensgelder, die Eltern im sog. Wasserrutschen-Fall zugesprochen wurden, deren Kind in einem Swimmingpool des Urlaubshotels wegen mangelhafter Ansaugpumpen einer Wasserrutsche ertrunken sind. Und jeder von ihnen weiß, wie relativ wenig Schmerzensgeld in der Regel den vielen namenlosen Unfallopfern bzw. deren Hinterbliebenen im Straßenverkehr zugesprochen wird. Das muss sich ändern.
Kulantes Verhalten des Schädigers und seines Versicherers bei einem Luftfahrtunfall, der in der breiten Öffentlichkeit besonders wahrgenommen wird, zu fordern, ist sicher legitim, greift meines Erachtens aber zu kurz. Denn auch im Schmerzensgeldrecht muss der Grundsatz “Gleiches Recht für alle” beachtet werden. Außergerichtliche Einigungen in Einzelfällen schlagen sich aber in aller Regel in der Rechtsprechung nicht nieder und führen daher keine grundsätzliche Veränderung des bisherigen “Systems” herbei. Das kann nur geschehen, wenn den Politikern ein dringender Handlungsbedarf aufgezeigt wird.
Schon nach dem Concorde-Absturz im Jahr 2000 habe ich bereits ein Umdenken bei der Bemessung von Schmerzensgeldern gefordert (Nachweise: RRa 2002, 116, Fn. 25). Das aber können letztlich nur die Gerichte und der Gesetzgeber bewirken. Mein Appell ist damals wohl gehört worden, leider aber ohne Reaktionen geblieben.
Es wäre sehr zu begrüßen, würde diese schreckliche Katastrophe dazu führen, dass der Gesetzgeber nunmehr rasch klare Regelungen zum Hinterbliebenen-Schmerzensgeld (u.a. Anspruchsberechtigung und Anspruchsvoraussetzungen) vorgibt und sich die deutschen Richter bei der Bemessung eines solchen Anspruchs im konkreten Fall stärker als bisher an den Maßstäben und der Judikatur in den europäischen Nachbarstaaten orientieren.