Irrungen und Wirrungen bei der Anwendung der Fluggastrechte-Verordnung
Die sog. Fluggastrechte-Verordnung (Verordnung (EG) Nr. 261/2004) ist nicht nur, aber doch weit überwiegend ein Regelwerk, das das Ziel hat, das Schutzniveau der Fluggäste sicherzustellen und zu erhöhen. Dass sie von den Luftfahrtunternehmen nicht besonders geschätzt wird, liegt auf der Hand. Denn in einer Zeit, in der Unternehmen generell nur noch profitorientiert denken und dem Gesichtspunkt der Kundenpflege zunehmend weniger Beachtung schenken, werden die Ausgleichsleistungen allein eine zusätzliche finanzielle Belastung angesehen.
Die Verordnung wurde und wird aber nicht nur von zahlreichen Unternehmen im Alltag ignoriert; sie wurde auch schon vor ihrer Entstehung, und erst recht danach aktiv bekämpft, indem man sie immer wieder auf den juristischen Prüfstand gestellt hat. So wurde der Europäische Gerichtshof schon im Jahr 2004 mit der Frage konfrontiert, ob der Gemeinschaftsrechtsakt nicht ungültig sei, weil er gegen internationales Recht (das Montrealer Übereinkommen) verstoße. Mit der sog. IATA-Entscheidung vom 10.1.2006 (Rs. 344/04) hat der Europäische Gerichtshof das aber verneint.
Den Zorn der Luftfahrtbranche erregte dann drei Jahre später das sog. Sturgeon-Urteil (Rs. 402/07) Luftfahrtbranche, mit dem der Europäische Gerichtshof festgestellt hat, dass – entgegen dem Wortlaut der Verordnung – Fluggäste auch bei einer großen Verspätung einen Anspruch auf eine Ausgleichsleistung haben, weil große Verspätungen der Nichtbeförderung und der Annullierung gleichzustellen seien.
Prompt strengten einige Luftfahrtunternehmen ein weiteres Verfahren vor dem Europäischen Gerichtshof an, um zu erreichen, dass das Gericht diese Entscheidung revidiert. Die Begründung: der Europäische Gerichtshof habe seine Auslegungskompetenz überschritten und sich in Widerspruch zum höherrangigen Recht gesetzt. Am 23. Oktober 2012 hat nun der Europäische Gerichtshof (Rs. C-581/10 – Nelson; C-629/10 – TUI Travel) seine im Sturgeon-Urteil niedergelegte Rechtsauffassung aber ausdrücklich bestätigt, was nur wenige wirklich überrascht haben dürfte.
Damit ist der Streit über eine grundsätzliche Frage beigelegt worden. Wer aber nun glaubt, dass auf dem Gebiet der Fluggastrechte Rechtsfrieden eingekehrt sei, irrt. Es wird weiter heftig um jede Möglichkeit, den Fluggästen die verbrieften Rechte nicht zu gewähren, gesucht. Ansatzpunkte gibt es leider genug. Denn die sog. Fluggastrechte-Verordnung ist nur für denjenigen, der sich nicht intensiv mit ihr auseinandersetzt, ein klares Regelwerk. Bei der konkreten Anwendung der einzelnen Bestimmungen auf die vielfältigen Lebenssachverhalte im Alltag des Luftverkehrs zeigt sich aber, dass zahlreiche Fragen nicht beantwortet werden – überwiegend, weil sie von den Verfassern der Verordnung mangels Praxiswissens nicht gesehen wurden, so z.B. Fragen im Zusammenhang mit den außergewöhnlichen Umständen, Codeshare- und Subcharter-Flügen, Non-Stop-Flügen und unterbrochenen Flügen, die Bodenabfertigung durch Dritte.Daher beschäftigen diese Rechtsprobleme seit Jahren die Instanzgerichte, zum Teil bis an die Grenze der Belastbarkeit.
Wer aber meint, dass acht Jahre nach Inkrafttreten der Passagierrechte durch die Judikatur weitgehend Klarheit geschaffen wurde, irrt. Die Rechtsansichten der Instanzgerichte variieren teils erheblich, so dass sich nur bei wenigen Fragen eine klare „herrschende Meinung“ herausgebildet hat. Das liegt nicht so sehr daran, dass einige Anwälte und Richter der Ansicht sind, sie müssten den mit vom europäischen Gesetzgeber geschaffenen, aber für überzogenen gehaltenen Verbraucherschutz korrigieren; nach meiner Einschätzung hat die starke Divergenz der Judikatur ihre Ursache auch im fehlenden Verständnis einiger Anwender für die von der Dogmatik des deutschen Rechts abweichende Dogmatik des Europarechts.
Wenn es bei Anwendung europarechtlicher Regelwerke im Rahmen eines Rechtstreit vor einem Gericht eines EU-Mitgliedstaates zu einer Auslegungsfrage kommt, kann jedes Gericht die Frage dem Europäische Gerichtshof zur Vorabentscheidung vorlegen; es muss das tun, wenn die Entscheidung selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden kann (Art. 267 AEUV). Diese Regelung wird weitgehend beachtet: Einige Spruchkörper der Instanzgerichte legen die offenen Rechtsfragen dem Europäischen Gerichtshof selbst zur Vorabentscheidung vor, andere lassen die Berufung zu bzw. die Revision zum Bundesgerichtshof, der dann zu prüfen hat, ob die Frage dem Europäischen Gerichtshof vorzulegen ist.
Auf diesem Wege sind so schon zahlreiche Vorlagefragen formuliert worden. Es erstaunt aber, dass es dennoch nur relativ wenige Entscheidungen des BGH oder gar des Europäische Gerichtshof zur Fluggastrechte-Verordnung gibt. Der Grund: Aus Sorge vor einem möglicherweise für sie ungünstigen Urteil ziehen viele Luftfahrtunternehmen kurz vor oder nach der mündlichen Verhandlung die juristische Notbremse und erfüllen oder erkennen Ansprüche „aus Kulanz“ an, die sie zuvor vorgerichtlich und in allen unteren Instanzen stets negiert haben. Das Motiv ist leicht durchschaubar: Gibt es keine höchstrichterliche Entscheidung, kann man nicht selten unwissende Anspruch-steller oder Kläger mit dem Hinweis auf ein (für ein Luftfahrtunternehmen günstiges und rechtskräftig gewordenes) Instanz-Urteil entmutigen, wenn weder der Kläger noch sein Anwalt wissen, dass dieses in Rechtskraft erwachsene Urteil vor dem Bundesgerichtshof oder dem Europäische Gerichtshof keinen Bestand gehabt hätte.
Aufgrund der im Zivilprozessrecht verankerten Dispositionsmaxime hat jede Partei grundsätzlich das Recht, ein Verfahren zu steuern, d.h. zu entscheiden, wann sie es beenden will. Doch muss jeder Rechtssuchende auch mit der Ressource Justiz sorgsam umgehen. Wer einen Anspruch durchsetzen oder bekämpfen will, und „wegen grundsätzlicher Bedeutung“ einer Rechtsache oberste Gerichte mit ungeklärten Rechtsfragen befasst hat, soll m.E. dann die Klärung nicht nach Gusto verhindern dürfen. Das halte ich für einen Missbrauch. Und nicht zu vergessen: Jedes Verfahren, das aus dem Register des EuGH gestrichen wurde, war nicht nur eine Vergeudung der Ressource Justiz, sondern ist leider auch eine vertane Chance, mehr Rechtsklarheit, Rechtssicherheit und Rechtsfrieden zu schaffen! Parteiinteresse und Allgemeininteresse stehen sich in solchen Fällen gegeneinander.
Und deswegen begrüße ich ausdrücklich den Diskussionsvorschlag des ehemaligen Präsidenten des Bundesgerichtshofs und heutigen Ombudsmannes der Versicherungswirtschaft Prof. Dr. Günter Hirsch, der den „Missbrauch des Revisionsverfahrens“ (im Versicherungsrecht) angeprangert hat und deswegen eine Revision des Revisionsrechts fordert (VersR 2012, 929): Der Gesetzgeber könnte – so Hirsch – dem Ziel des Revisionsverfahrens (Sicherstellung der Rechtsklarheit und Rechtseinheitlichkeit im Interesse der Allgemeinheit) Vorrang vor der Parteidisposition geben, indem er „dem Revisionsgericht die Möglichkeit einer Klärung der rechtsgrundsätzlichen Frage im Interesse des Rechts einräumt, auch wenn das Interesse einer Partei oder beider Parteien an der Entscheidung entfallen ist,“ wenn die Sache entscheidungsreif ist und über den Einzelfall hinaus für eine Vielzahl von Fällen große Bedeutung hat.
Da sich der Missbrauch des Revisionsrechts aber nicht auf das Versicherungsrecht, das Luftverkehrsrecht und das Reiserecht beschränkt, wäre es sehr zu begrüßen, wenn dieser Vorschlag schnellstens vom Gesetzgeber aufgegriffen und umgesetzt würde. Ein Kraftakt wäre das wahrlich nicht! Ob aber die jetzige Bundesregierung noch die Kraft oder den Willen hat, wenigstens solche Projekte umzusetzen, muss leider bezweifelt werden. Doch könnten die Kommission der Europäischen Union bzw. das Europäische Parlament für europarechtliche Regelwerke dem Europäische Gerichtshof ein entsprechendes Recht einräumen und so auf supranationaler Ebene für die Fortentwicklung des europäischen Rechts und der europäischen Judikatur in den Mitgliedstaaten der Europäischen Union sorgen.